Die Kirche erreicht vor allem Kinder und Jugendliche

„Die evangelische Kirche erreicht keine Generation so gut wie Kinder und Jugendliche“, erklärt Wolfgang Ilg, Professor für Religions- und Gemeindepädagogik an der EH Ludwigsburg. Das bestätigt nun aufs Neue die Studie „Jugend zählt 2“, die Ende Februar vorgestellt wurde. Die wissenschaftliche Verantwortung lag bei Prof. Ilg und seiner Forschungsgruppe Jugendarbeit der EH Ludwigsburg, getragen wurde das Projekt von den Ev. Landeskirchen in Württemberg und Baden.

Prof. Dr. Wolfgang Ilg

Prof. Dr. Wolfgang Ilg

Wer meint, das typische Kirchenbild sei eine ziemlich leere Kirche mit wenigen grauen Häuptern am Sonntagmorgen, der irrt. „Empirisch gibt es keinen Zweifel: Es sind die Kinder und Jugendlichen, die am besten erreicht werden.“ Zu den erfolgreichsten Angeboten der ev. Kirche zählt die Konfi-Arbeit, die von 80 Prozent der 13- bis 14-jährigen wahrgenommen wird und längst nicht mehr Konfirmandenunterricht heißt, weil es nicht um Frontalunterricht geht, sondern darum, die jungen Menschen zu erreichen, ermutigen und befähigen, sie sollen ihre Fragen stellen dürfen und Antworten finden. Warum werden Menschen verbrannt, bevor sie auf den Friedhof kommen? Warum kommen Blumen aufs Grab? Wo ist Gott in den Ländern, in denen Kriege sind oder Menschen Armut und Hunger leiden? Konfi-Arbeit ist für die meisten Kirchenmitglieder die intensivste Form der Begegnung mit Kirche.

Von der Jungschar über den Kindergottesdienst bis zu musikalischen Angeboten: Die Evangelischen Landeskirchen in Baden und Württemberg erreichen mit ihren Gruppen-Angeboten laut Statistik „Jugend zählt 2“ 159.000 junge Menschen. Weitere 280.000 Kinder und Jugendliche nehmen pro Jahr an Freizeiten, Waldheimtreffen oder Bildungsseminaren teil. Hinzu kommen 85.000 junge Menschen in der Jugend- und Behindertenhilfe der Diakonie. 

„Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt.“ 

Den Satz von Albert Einstein zitieren die Studienverantwortlichen im Vorwort des Buches, das immerhin 407 Seiten stark und 980 Gramm schwer ist. Da wurde also doch sehr viel gezählt. Trotzdem, „was wirklich zählt im Leben, lässt sich nicht in Zahlen fassen“, so Professor Ilg. „Wenn junge Menschen am Lagerfeuer ein Abendgebet sprechen oder wenn unbegleitete Minderjährige aus Syrien in der diakonischen Jugendhilfe Perspektiven für die Zukunft entdecken– dann wird der Wesenskern von Kirche und Diakonie sichtbar.“ Warum dann ein Buch voller Zahlen und Analysen? „Um mit diesen Erfahrungen mehr Sichtbarkeit zu erreichen.“ 

„Jugend zählt 2“ ist eine breit angelegte statistische Erhebung, die kirchliche, diakonische und jugendverbandliche Angebote in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 2021 und 2022 erfasst hat. Der Rücklauf von 72 Prozent war die Ausgangsbasis für die Hochrechnung. Es ist das zweite Nachschlagewerk dieser Art.

Zwischen der ersten Studie „Jugend zählt“ und der zweiten liegen neun Jahre. In diesem Zeitraum hat die Konfirmationsquote allerdings, bezogen auf die Gesellschaft, stark abgenommen: Lag sie in der ersten Vollerhebung noch bei mehr als einem Drittel, beträgt sie nun etwas weniger als ein Viertel. „Das hat nicht damit zu tun, dass die Evangelischen sich nicht mehr konfirmieren lassen wollen, sondern damit, dass es 24 Prozent weniger evangelische Jugendliche gibt“, erklärt Ilg. Gründe seien vor allem die demografische Entwicklung, eine nachlassende kirchliche Bindung, auch eine zunehmende Säkularisierung, also dass Menschen keinen engen Bezug mehr haben zu Kirche und Religion, „denn natürlich treten keine Kinder aus der Kirche aus, sondern deren Eltern. Und die lassen ihre Kinder dann auch nicht taufen.“ Ein weiterer Grund ist die Zuwanderung, „die meisten Migranten sind muslimisch, katholisch oder orthodox“.

Der wissenschaftliche Teil der Arbeit ist aufwändig. Wenn die Online-Fragebögen eingehen, beginnt das Erfassen, das erneute Erinnern, das Nachtragen. Dann werden die Daten plausibilisiert, Fehleintragungen korrigiert. Bis zum Frühjahr 2023 hatte das Team um Wolfgang Ilg die finalen Daten zusammengestellt - und machte sich an die Arbeit: „Wir wollten nicht nur eine Ansammlung von Daten, sondern diese Daten interpretieren.“ Das Buch hat deshalb 63 Autorinnen und Autoren, die in ihren Texten das Zahlenergebnis einordnen und erklären.

Der Inhalt ist überraschend. Zum Beispiel, dass die Kinder- und Jugendarbeit die Pandemie überstanden hat. „Das Zusammenkommen war ja über einen längeren Zeitraum nicht mehr möglich – nahm danach aber relativ schnell wieder Fahrt auf.“ Es gibt viele Angebote, die sich unter dem Begriff Gemeindepädagogik sammeln – Religions- und Gemeindepädagogik heißt der Studiengang an der EH, für den Wolfgang Ilg die Professur hat. Er beinhaltet alle Bildungsfelder der Kirche außerhalb des Religionsunterrichts. „Das ist manchen nicht bewusst, aber in diesen Feldern erreichen wir sehr viele.“ Es reiche darum nicht, wenn Kirchenverantwortliche sich auf den Gottesdienst fokussieren. „Der ist nicht mehr das Zentrum kirchlichen Handelns.“ Heute setzten sich auch nicht mehr alle vor den Fernseher und schauten „Wetten, dass…?“. Heute gibt es unzählige Programme und jeder wählt für sich eins aus. So ist es auch in der Kirche.