„Humorvolle Menschen und eine besondere Hochschulkultur“

Prof. Dr. Elisabeth „Liz“ Nicolai geht nach 20 Jahre an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg in den Ruhestand. Bevor sie nach Ludwigsburg kam, arbeitete die gebürtige Heidelbergerin in der Medizinischen Psychologie an der Universität Heidelberg, wo sie auch promovierte.

Prof. Dr. Elisabeth „Liz“ Nicolai geht in den Ruhestand

Frau Nicolai, Sie sind von Haus aus Psychologin…

Ich habe acht Jahre in der Jugendhilfe gearbeitet, machte eine systemische Weiterbildung, wechselte 1997 an die Uni, arbeitete in der Psychiatrie – und dann wurde die Jugendhilfeprofessur in Ludwigsburg ausgeschrieben, eine Professur zur Systemischen Beratung von Familien mit Kindern und Jugendlichen. Das war meine Denomination. Es passte alles für die Bewerbung: Jugendhilfe, systemische Beratung, Psychiatrie, Praxiserfahrungen in der Sozialen Arbeit, Lehrerfahrung an der Uni. Denn mal ehrlich - die wenigsten Lehrveranstaltungen an den Unis werden von den Profs selbst gehalten. Das machen ihre Assistenten oder wissenschaftlichen Mitarbeitenden.

Warum haben Sie die Jahre in der Jugendhilfe eingeschoben?

Aus der Not heraus, ich hatte zwei kleine Söhne und konnte nur halbtags arbeiten. Als Psychologin und Berufsanfängerin fand ich keine Stelle mit 50%. Also fing ich als Sozialarbeiterin in einer Einrichtung für schwerst verhaltensauffällige Jugendliche – wie man sie damals nannte - zwischen 14 und 21 an. Heute würde man sie Systemsprenger nennen. Fünf Jugendliche, fünf Betreuer:innen. In den acht Jahren habe ich alles kennengelernt: Gespräche im Jugendamt, Krisen, Schulkooperationen, ich wurde in der Einrichtung sogar stellvertretende Heimleiterin. Irgendwann war ich durch damit und fand eine Promotionsstelle an der Uni in Heidelberg. Und lernte dort übrigens Heike Stammer kennen, auch Doktorandin in derselben Abteilung.

Was war das Thema Ihrer Doktorarbeit?

Systemische Methoden in psychiatrischen Einrichtungen. Wir erforschten, wie man systemische Methoden als Gesamtkonzept in der Psychiatrie einführen kann. Nicht nur über einzelne Leute, die sich weiterbilden und Kurse belegen. Damals tourte ich durch 17 Einrichtungen, beobachtete, führte Gespräche mit einzelnen und in Gruppen. Um zu erfahren, ob und wie man systemisches Arbeiten integrieren könnte. Und dann haben wir daraus ein Fortbildungs-Programm für Kliniken entwickelt, das heute noch läuft.

Wie funktioniert dieses Programm?

Psychiatrische Kliniken implementieren damit ein Gesamtkonzept, nach dem sie therapeutisch vorgehen, ihre Angehörigenarbeit gestalten und das bis in die Teamkooperation reicht. Es gibt systemisch orientierte Teamsitzungen, man arbeitet mehr ressourcenorientiert, man schaut sich die Netzwerke an, in denen die Patient:innen leben und behandelt werden.

Was heißt das konkret?

Beispielsweise wird nach der Aufnahme immer ein Familiengespräch geführt. Alle, von der Pflegekraft bis zur Chefärztin, lernen dieses Grundsystem des systemischen Arbeitens in der Fort- und Weiterbildung. Alle sind auf demselben Stand, berufsgruppen- und hierarchieübergreifend. Daraus wurde ein neues, großes Forschungsprojekt. Und wir stellten fest: Die Patient:innen gingen gesünder raus, als davor und die Arbeitszufriedenheit verbesserte sich signifikant.

Und dann folgten zwei Jahrzehnte an der EH Ludwigsburg.
 
Beim Einstellungsgespräch 2005 sagte man mir, ich hätte die Stelle, aber es könnte sein, dass die Hochschule zumacht. Die Schließung stand kurz bevor! Ich blieb gelassen. Wenig später kam der damalige Rektor Prof. Dr. Rose mit guten Nachrichten auf uns zu: Die Schließung war vom Tisch. Es folgten andere heiße Themen und manche Konflikte und ich lernte: Vieles erledigt sich von alleine. Nicht reinsteigern.

Sie wurden schon zwei Jahre später Dekanin. Wie kam das?

Prof. Beate Aschenbrenner-Wellmann legte ihr Amt nieder. Ich übernahm es im Duo mit Prof. Gerhard Hess und lernte viel in seinem Windschatten. Ich war Dekanin für Soziale Arbeit und er für Religionspädagogik und Diakonie. Als ich drei Jahre später ins Forschungssemester ging, stellte ich mich nicht zur Wiederwahl.

Viele Jahre später übernahm ich das Amt noch einmal für zwei Wahlperioden, das sind sechs Jahre. Ich freute mich, vor dem Ruhestand nochmal Verantwortung und diese Aufgabe zu übernehmen. Das Dekanat ist zuständig für die Lehre und übergeordnete Koordinationsaufgaben, viel Administratives, sozusagen die Steuerung oberhalb der Studiengangsleitungen.

Was hat Ihnen am meisten Freude bereitet in den 20 Jahren an der EH – sicher nicht das Administrative?

Och, das fand ich auch ganz gut, weil ich konstruktiv und kooperativ gestalten konnte bei den Abstimmungsprozessen. Ich hab´ gerne moderiert, um Konflikte zu vermeiden und konstruktive Entscheidungen gemeinsam herbeizuführen. Das ist eine schöne Sache. Ich war all die Jahre gerne an der Hochschule. Ich erinnere mich, wie ich mal Montagmorgens an der Bushaltestelle stand und zwei Frauen unterhielten sich neben mir: Ach wäre die Woche doch schon vorbei. Noch dreieinhalb Monate bis zum Urlaub… Und ich dachte, das ist traurig. Und wie glücklich bin ich in meinem Beruf.

Was war nicht so toll?

Manche Sitzungen fand ich langweilig. Wenn ich sie nicht selbst leitete. Haha. Vor allem gegen Semesterende waren viele überarbeitet und streitlustig. Wir machen einen anstrengenden Job hier.

Ihr Schwung und Ihr Tempo sind nicht zu übersehen…

Wahrscheinlich geht uns das allen so, wir sind ja Performer, stehen gerne vorne und erzählen was. Mir tun manchmal die Studierenden leid, die so viele Stunden am Tag sitzen und zuhören müssen, ich würde verrückt werden.

Obwohl die Lehre bei Ihnen bestimmt kurzweilig war, oder?

Ja, aber immer sitzen, zuhören, aufnehmen finde ich sehr viel schwieriger, auch an Sitzungen. Sobald ich selber was tun kann, ist es aktivierend.

Wollten Sie schon immer unterrichten?

Meine Eltern waren beide Lehrer mit Leidenschaft. Als ich Abitur machte, rieten sie mir, werd´ Lehrerin, dann wirst du verbeamtet. Ich studierte lieber Psychologie. Heute bin ich Lehrende und Psychotherapeutin. Ich praktiziere in kleinem Umfang nebenbei in Heidelberg, Familien- und Paartherapie, weil ich der Überzeugung bin, dass man auf lange Sicht nichts lehren kann, was man nicht aktiv tut. Meine Studierenden sollten nicht das Gefühl haben, ich erzähle seit zehn Jahren die gleichen Fallbeispiele, die sie schon von anderen Studierenden kennen. Ich wollte immer aktuell bleiben und die Kombination aus therapeutischer Arbeit und Lehre machte mir große Freude.

Wie ist Ihnen zumute?

Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich den Ruhestand genießen kann. Ich habe Familie und zwei Enkelkinder, sieben und elf Jahre alt, die ich regelmäßig sehe. Ich treibe viel Sport, lese gern und beim Autofahren höre ich leidenschaftlich Hörbücher.

Fachliteratur?

Grade höre ich was Klassisches, „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann, ich genieße diese Sprache. Davor war es Ewald Arenz mit „Alte Sorten“ und dann Caroline Wahl mit „22 Bahnen“.

Sie haben jetzt viel Zeit.

Ein Gerontologe sagte mal, man lebt in der Rente in einem Leben, das man sich vorher eingerichtet hat. Langeweile war mir immer fremd. Im Sommer schwimme und jogge ich, fahre Fahrrad und gehe raus in die Natur. Sonntagmorgens drehe ich mit Heike Stammer und ihrem Mann eine große Runde, anderthalb Stunden, eine Mischung aus Walken und Joggen. Und ich singe seit vielen Jahren in einem afrikanischen Chor. Wir haben einen Partnerchor in Südafrika. Die Musik ist sehr lebendig und rhythmisch, wir sitzen nie beim Singen, sind immer in Bewegung, damit wir den Takt halten können.

In welcher Sprache – Englisch?

Nee, wir singen Zulu oder Xhosa.

Was möchten Sie den Kolleg:innen noch zurufen?

Wir sind eine tolle Hochschule mit humorvollen Menschen und einer besonderen Kultur. Es gibt viele persönliche Verbindungen, die Dozierenden helfen sich gegenseitig. So etwas wie beispielsweise das gemeinsame selbstorganisierte Mittagessen ist etwas Besonderes und nicht selbstverständlich.