Herr Mutschler, es gibt doch nichts Schöneres auf der Welt, als Professor:in an der EH zu sein. Warum sind Sie gegangen?
Es wären bis zur Pension nochmal 13 Jahre gewesen. 26 Jahre auf derselben Stelle. Ich wollte nochmal etwas Neues. Außerdem dauerte das Pendeln von Metzingen nach Ludwigsburg immer länger. Ich war mit dem Zug oft zwei Stunden für eine Strecke unterwegs.
Ist Ihr jetziger Job nicht viel anstrengender?
Mein Arbeitstag im Büro beginnt um 6.30 Uhr und ist durchgetaktet mit Sitzungen, Gremienarbeit, Terminen und Administrativem bis abends. Aber die Jahre an der EH waren ebenfalls anstrengend. 2008 wurde ich mit 40 Jahren habilitiert und begann als glücklicher Professor an der EH Ludwigsburg. Kurz darauf starb meine Frau an Krebs und ich war mit drei kleinen Kindern allein, sie waren zwei, fünf und sieben Jahre alt. In dieser Situation lebte ich zehn Jahre. Ich wollte, dass weder die Kinder noch die Studierenden zu kurz kommen
Wie haben Sie das geschafft?
Ich las, aß und schlief im Zug. Ich war jahrelang übernächtigt. Es hat uns als Familie zusammengeschweißt. Die drei Kinder sind inzwischen erwachsen und studieren. Und ich bin wieder in einer stabilen, glücklichen Partnerschaft.
Sie haben eine lange Wegstrecke zurückgelegt…
Mein großes Abenteuer heißt: Bildung. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, meine Eltern haben kein Abitur, wir hatten Landwirtschaft. Ich wusste schon in der 3. Klasse, dass ich Pfarrer werden wollte. 1982 ging ich aufs Internat in Maulbronn, das Evangelische Seminar, wo übrigens vor 200 Jahren Gustav Werner auch als Stipendiat war. Ich studierte später Evangelische Theologie, Altgriechisch, Religionswissenschaft und Judaistik. Wechselte von Neuendettelsau in Franken nach Tübingen, dann nach Jerusalem, Trier, Wien, Heidelberg, Rom und wieder nach Tübingen...
…und nun sind Sie in Reutlingen bei der BurderhausDiakonie, einer gemeinnützigen, christlich-diakonischen Stiftung, gegründet vom Theologen Gustav Werner im 19 Jh., die in der Alten-, Behinderten- und Jugendhilfe tätig ist, in der Sozialpsychiatrie und beruflichen Bildung. Wo liegen die Herausforderungen?
Arbeitskräfte werden knapper, die Refinanzierung bleibt herausfordernd. Und wir wollen bis 2035 klimaneutral sein, damit habe ich jede Woche zu tun.
Was ist besonders schön in Ihrem Arbeitsalltag?
Die Begegnungen mit den Mitarbeitenden, sie sind sozial, engagiert und übernehmen Verantwortung. Als Diakonie ermöglichen wir ihnen ein „anonymes Christentum“. Dafür müssen sie nicht bekehrt und getauft sein. Das Vorbild der Diakonie ist der barmherzige Samariter in Lukas 10. Er war weder Christ noch Jude. Sondern Samariter. Wer gute Arbeit macht, ist willkommen in der BruderhausDiakonie. Wir haben auch muslimische Bereichsleitungen, wir können nicht so tun, als lebten wir im 19. Jahrhundert.
Wie viele Ihrer 5000 Mitarbeitenden kennen Sie persönlich?
In meinem ersten Jahr hospitierte ich in allen Geschäftsfeldern, um viele kennenzulernen. Und jetzt mache ich regelmäßig und gezielt Besuche. Kürzlich war ich einen halben Tag im Waldkindergarten. Mich interessiert, was die Erzieherinnen antreibt, was sie gut finden und fachlich bewegt. Und ich möchte ihnen zeigen, wie sehr ich ihre Arbeit schätze.
Bleiben Sie der BruderhausDiakonie bis zur Pensionierung erhalten?
Gerne ja, denn meine Arbeit macht mir Freude und ist unendlich vielfältig. Als Theologischer Vorstand bin ich nicht nur für Theologie und Ethik, sondern auch für Datenschutz, Kommunikation, Umwelt oder auch Immobilien und Bau zuständig.
Wie erholen Sie sich von den langen Arbeitstagen?
Am Wochenende gehe ich spazieren. Auch Musik spielt eine große Rolle. In meiner Familie sind alle Organisten und Blechbläser, wir musizieren zusammen, beispielsweise als Posaunenquartett. Ich fand immer Ruhe und Trost in der Musik.
Wenn Sie an die EH denken – woran erinnern Sie sich gerne?
Ich durfte beliebig intensiv die Bibel studieren und eine Brücke bauen zu den Menschen, ich war Professor für Biblische Theologie und Gemeindediakonie. Und es war schön, die Studierenden zu begleiten, damit sie vorankommen. Ich erinnere mich auch an hilfsbereite Kolleg:innen, wenn ich mal einen Rat brauchte mit meinen pubertierenden Kindern. Eine eindrückliche Erfahrung war, wie die Studierenden mit dem Tod meiner Frau umgingen. Einfühlsam und superkooperativ, es war ein Quantensprung…
Aus Mitgefühl?
Eher nicht, sondern was ich sagte, schien mehr wert. Ich konnte glaubwürdiger sprechen, obwohl ich nichts anderes sagte. Ich bezeichne es heute als Lebenserfahrung.