An der EH wird zur Demokratiebildung in der Jugendarbeit geforscht

Prof. Dr. Rolf Ahlrichs verantwortet eine Studie im Rahmen des Leitthemas „Demokratie stärken“ der Evangelischen Landeskirche in Württemberg

Seit einigen Jahren wird intensiv über die „Krise der Demokratie“ diskutiert. Auch die Kirchen meldeten sich in diesem Diskurs zu Wort. Der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz haben im April 2019 ein Gemeinsames Wort mit dem Titel „Vertrauen in die Demokratie stärken“ veröffentlicht. Der Text konstatiert eine Vertrauenskrise der liberalen Demokratie und eine Zunahme antidemokratischer, populistischer Kräfte.

Für Deutschland zeigt die „Mitte-Studie“ (Zick et al. 2019) ein stabiles Nebeneinander von demokratischen Orientierungen bei einer Mehrheit der Befragten und antidemokratischen Orientierungen bei einer Minderheit. Diese Minderheit umfasst allerdings je nach Fragestellung bis zu einem Drittel der Befragten, die ein illiberales Demokratieverständnis zum Ausdruck bringen – also eines, dass nicht von der Gleichwertigkeit aller Menschen innerhalb des demokratischen Systems ausgeht. Daraus folgern die Autor*innen:

„Die Gleichzeitigkeit von demokratischen und antidemokratischen Orientierungen verweist darauf, dass bestimmte Werte zum Teil eher auf abstrakter Ebene verbleiben als in die eigene Lebensrealität und beispielsweise auf die tatsächlichen Beziehungen zu anderen Menschen übertragen zu werden. Bildung müsste Demokratie daher erfahrbar machen, und nicht nur abstraktes Wissen über das politische System vermitteln.“ (Zick et al. 2019, S. 241)

Die hier zum Ausdruck kommende Bedeutung einer erfahrungsbasierten Demokratiebildung und der Vermittlung demokratischer Werte wird auch in der Stellungnahme der Bundesregierung zum 16. Kinder- und Jugendbericht deutlich.

„Demokratie und demokratisches Verhalten müssen von jeder neuen Generation neu gelernt und eingeübt werden. Junge Menschen wachsen heute in einer Zeit auf, die geprägt ist von tiefgreifenden gesellschaftlichen Entwicklungen, z. B. von Globalisierung, Klimawandel, Migration, Digitalisierung und demografischem Wandel. Diese sogenannten Megatrends und Krisenphänomene fordern die Demokratie heraus. […] Zudem wird die Demokratie mit Einstellungen und Aktivitäten konfrontiert, die ihr mit Skepsis begegnen, sie unterhöhlen oder sie sogar offen angreifen. Dazu gehören z. B. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie Rechtsextremismus und -populismus.“ (BMFSFJ 2020: S. 7)

Demokratiebildung zielt auf eine demokratische Haltung, die auch als „demokratische Sittlichkeit“ (EKD 2019, S. 7) oder „demokratisches Ethos“ (EKD 2020, S. 15) bezeichnet werden kann. Damit ist eine am Gemeinweinwohl orientierte Haltung gemeint, die die eigenen Interessen auch einmal zurückstellt und bereit ist, die Argumente anderer zu prüfen und Kompromisse einzugehen. Die Kirche könne ein Ort entsprechender Bildungsprozesse sein. Eine so verstandene Demokratiebildung verweist auf einen Demokratiebegriff, der Demokratie nicht nur als Regierungsform – also als politisches System –, sondern auch als Lebensform, als „Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“ (Dewey 2011, S. 121) definiert. Der Kinder- und Jugendarbeit wird in diesem Zusammenhang das Potenzial zugesprochen, ein Ort zu sein, an dem Kinder und Jugendliche demokratische Verhaltensweisen einüben, Entscheidungsprozesse erleben und Verantwortung übernehmen können (BMFSFJ 2020, S. 329ff.). Voraussetzung ist allerdings, dass junge Menschen demokratische Strukturen und Verfahren einerseits vorfinden, sie andererseits gemeinsam erleben, reflektieren und weiterentwickeln (Richter et al. 2016)

1. Forschungsstand und Forschungsfragen

Laut der aktuellen Sinus-Jugendstudie beklagen Jugendliche die „fehlende Teilhabe der jungen Generation an politischen Entscheidungsprozessen sowie die mangelnde Repräsentation von Jugendlichen im politischen Raum“ (Calmbach et al. 2020, S. 444). Nach der Partizipation in Vereinen und Verbänden wurde nicht explizit gefragt, Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule sind aus Sicht der meisten befragten Jugendlichen jedoch „nicht vorhanden“ (Calmbach et al. 2020, S. 275). Gleichwohl ist das Interesse junger Menschen an politischen Themen und die Bereitschaft, sich für diese Themen gesellschaftlich einzusetzen, in den vergangenen Jahren gestiegen (Antes et al. 2020, S. 57; Shell 2019, S. 49).

Die Erziehung junger Menschen zu Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Mitverantwortung ist gesetzlicher Auftrag der Jugendverbandsarbeit (§§ 11 und 12 SGB VIII), entspricht aber auch dem formulierten Selbstverständnis der Jugendverbände als „Werkstätten der Demokratie“ (DBJR 2011, S. 1). Die Partizipations- und Demokratieerfahrungen in Jugendverbänden sind bislang jedoch nur wenig erforscht worden.

Eine Studie zur Jugendverbandsarbeit in Baden-Württemberg (Ahlrichs 2019) zeigt, dass Elemente demokratischer Bildung in den befragten vierzehn Jugendverbänden unterschiedlicher weltanschaulicher Prägung vorhanden sind. Doch es wird deutlich, dass das vorhandene Potenzial bislang zu wenig ausgeschöpft wird. Auf der Grundlage der Aussagen von Jugendbildungsreferent*innen konnten drei Idealtypen herausgearbeitet werden, die unterschiedliche Verständnisse von Demokratiebildung zeigen. Sie können zur Reflexion und Weiterentwicklung von Jugendverbänden dienen, indem sie Diskrepanzen zwischen Ideal und Realität verdeutlichen und damit verbandsinterne Diskussionen anregen.

Anknüpfend an diese Studie, nimmt die nun geplante Studie das Evangelische Jugendwerk in Württemberg (EJW) als größten konfessionellen Jugendverband in Baden-Württemberg in den Blick. Kontrastierend werden die BUNDJugend und die Jugend des Deutschen Alpenvereins (JDAV) untersucht. Die BUNDJugend ist als Ort des politischen Engagements junger Menschen in Klimafragen und als Ausgangspunkt für die Fridays for Future-Demonstrationen interessant. Der Deutsche Alpenverein ist der Mitgliederstärkste Sportverein in Baden-Württemberg und damit zugleich mit großem Abstand der größte Jugendverband des Bundeslandes.

Die partizipativ angelegte, qualitative Studie konfrontiert den Anspruch und das Potenzial der drei befragten Jugendverbände mit dem Erleben Jugendlicher und junger Erwachsener, die sich in den Strukturen und Projekten der Jugendverbände engagieren. Ziel der empirischen Untersuchung ist es, die demokratischen Erfahrungen junger Menschen im Jugendverband zu erheben und mit ihnen über Weiterentwicklungsmöglichkeiten zu diskutieren. Die Studie zielt damit auf die Rekonstruktion und Reflexion der Praxis der Demokratiebildung in Jugendverbänden und ihr Entwicklungspotenzial als Orte gelebter Demokratie im Kontext gesellschaftlicher und institutioneller Veränderungsprozesse.

Die Leitfrage der Studie lautet:

Wie lernen junge Menschen Demokratie in der Jugendverbandsarbeit?

Konkret sollen folgende Forschungsfragen beantwortet werden:

  1. Wo erleben junge Menschen Partizipation und Demokratie in „ihrem“ Jugendverband? Wie gestalten sie Partizipation und Demokratie in den Gremien, an denen sie teilnehmen, in Gruppen oder Projekten bzw. in Bildungsangeboten und Seminaren? Welche Formen demokratischer Mitbestimmung werden dort „eingeübt“? Welche Werte spielen eine Rolle? Wie werden diese vermittelt?
  2. Bei welchen Themen wünschen sich junge Menschen mehr Mitbestimmung? Wie müsste diese Mitbestimmung gestaltet werden?
  3. Wie unterscheidet sich die demokratische Erfahrung im Jugendverband von Erfahrungen in anderen gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen (Familie, Schule, Medien …)?
  4. Inwiefern beeinflusst die demokratische Erfahrung im Jugendverband die Sicht junger Menschen auf Zivilgesellschaft und Politik? Inwiefern eröffnet die demokratische Erfahrung im Jugendverband Wege zu zivilgesellschaftlichen Aktionsformen (z.B. für Klimaschutz oder gegen Rassismus)? Inwiefern prägen Jugendverbände Haltungen von Jugendlichen zu politischen (auch radikalen / extremistischen) Bewegungen?

2. Zu erwartender Nutzen des Forschungsprojektes für die Württembergische Landeskirche und die Jugendverbandsarbeit

  • Grundlegende Erhebung der Erfahrungen junger Menschen zur Demokratiebildung und Wertevermittlung innerhalb der verbandlichen Kinder und Jugendarbeit sowie ihrer Erwartungen und Wünsche an eine demokratische Gestaltung der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit
  • Vergleichende Ergebnisse der Demokratiebildung innerhalb des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg zu zwei relevanten Jugendverbänden in BadenWürttemberg, damit Möglichkeit zur Herausarbeitung der Stärken und ggf. Schwächen der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit.
  • Erkenntnisse zur notwendigen Weiterentwicklung der evangelischen Kinder und Jugendarbeit bzw. der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit als Ort demokratischer Erfahrungen
  • Differenzierte Erkenntnisse über Potenziale und Grenzen einzelner Arbeitsfelder bzw. strukturellen Ebenen innerhalb der Jugendverbandsarbeit zur Demokratiebildung
  • Zentrale Positionierung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zur Demokratiebildung im Sinne der Leitzielsetzung mit dem Titel „Präsenz in der Wertediskussion“
  • Qualitativempirische Vertiefung aktueller, grundsätzlicher Positionspapiere der EKD zur Demokratiebildung sowie der Ergebnisse des 16. Kinder- und Jugendberichts.
  • Hohe Strahlkraft der Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit angesichts einer sehr aktuellen fach und gesellschaftspolitischen Diskussion zur Situation der Demokratie und zur Forderung nach Demokratiebildung.

Die Veröffentlichung der Studienergebnisse erfolgt durch einen Fachtag und eine Publikation im Frühjahr 2022. Erste Zwischenergebnisse werden beim Studientag des EJW und der EH Ludwigsburg „Junge Menschen und die Kirche“ am 21.06.2021 präsentiert. Zudem ist eine Präsentation erster Ergebnisse beim Bundeskongress der Kinder- und Jugendarbeit im September 2021 in Nürnberg sowie der Gesamtergebnisse beim Fachkolloquium „Was ist Jugendarbeit“ im Februar 2022 in Vlotho vorgesehen.

Die Studie nimmt das Evangelische Jugendwerk in Württemberg als größten konfessionellen Jugendverband in Baden-Württemberg in den Blick. Kontrastierend werden die BUNDJugend und die Jugend des Deutschen Alpenvereins (JDAV) untersucht.